Helen Koriath

Reflexion –  Ausstellung Lehrte, 13. November 2009

Mit meinen Anmerkungen möchte ich Ihnen Silke Zeidler vorstellen und versuchen, Sie in Gedanken ein bisschen mitzunehmen - hinaus aus der Ausstellung, hinein in die nicht nur fotografischen Bildwelten, an denen uns Silke Zeidler mittels ihres subjektiven Blicks teilhaben lässt. Was Silke Zeidler uns in ihren bisher entstandenen fotografischen Serien zeigt, sind kleine visuelle Ausschnitte, die sie aus ihrer intensiven Auseinandersetzung mit ihrem jeweiligen Lebensumfeld gewonnen hat. Das ostwestfälische Hamm, wo sie geboren und aufgewachsen ist, die Stadt Hannover, ihr Studienort und schließlich Los Angeles, wo sie heute lebt und in ganz neuer Umgebung und unter ganz anderen künstlerischen Einflüssen weiter studiert, sie sind die bisher wichtigen biografischen Stationen. Nur für kurze Zeit ist Silke Zeidler von der amerikanischen Westküste zurück gekehrt. Im Gepäck neue Arbeiten, die an ihre fotografischen, hier in Deutschland entstandenen Serien anknüpfen, die aber gleichzeitig eine Öffnung ihrer auf das fotografische Bild konzentrierten Ansätze/Konzepte bedeuten. Die in der Zusammenstellung der Exponate dieser Ausstellung exemplarisch zu beobachtenden Entwicklungen weisen in Richtung eines umfassenderen Verständnisses von künstlerischem und dokumentarischen Arbeiten mit Mitteln der Fotografie und bedeuten eine Ausweitung der systematischen Versuche zur Erfassung der Wirklichkeit.

Fragt man sich nach den Gemeinsamkeiten, die Hamm, Hannover und LA haben könnten, fallen einem wahrscheinlich nicht viele ein und schon allein die Frage mag den meisten wohl absurd erscheinen. Allzu unterschiedlich scheinen die Bilder, die wir in unseren Vorstellungen in Bezug auf diese Städte projizieren. Schaut man sich aber die Fotoserien Silke Zeidlers an, die an diese drei Orte und Regionen gebunden sind, dann werden Gemeinsamkeiten tatsächlich augenfällig.
Anders als zum Beispiel in der Stadtwerbung lenkt Silke Zeidler unseren Blick grundsätzlich nicht auf die Besonderheiten, die repräsentativen Architekturen und touristischen Highlights der Städte. An Stelle der auf das Wiedererkennen abzielenden Totalen zeigt sie uns Ausschnitte, die dem Touristen entgehen und deren tatsächliche Dimension und Verortung sich nur selten erschließen. Statt den Blick über die Oberflächen gleiten zu lassen und uns als aus der Distanz mit den Augen Mitreisende mitzunehmen auf ihren Ortserkundungen, sucht, selektiert, filtert, kondensiert, isoliert, thematisiert und analysiert sie in ihren Werkgruppen Aspekte ihres jeweiligen Lebensraums und stellt sie ohne die Möglichkeit der visuellen und gedanklichen topografischen Verortung nebeneinander. Neuerdings dienen neben der Fotografie auch Video (hier nicht zu sehen) und Schrift als ihre Aufzeichnungsinstrumentarien. Doch weder in ihren Methoden der Annäherung an ihren Untersuchungsgegenstand noch in der Erweiterung der Fotografie um Video, Text und Straßenkarte geht es der Künstlerin um eine dokumentarische Erfassung der Städte oder Straßen. Die „Zwielicht–Aufnahmen“, die Ablichtungen der leeren Werbeleuchtkästen und die Fotografien, die zuletzt auf dem Hollywood Boulevard in LA entstanden, die auch betont Menschen im öffentlichen Raum zeigen und die begleitet sind von Videosequenzen und schriftlichen Notizen, die – wie um sie räumlich zu verorten - von Ausschnitten aus einer stark vereinfachten Touristenstraßenkarte unterlegt sind - sie alle beruhen auf einem ganz persönlichen und vielschichtigen Wechselspiel zwischen dem Leben im öffentlichen Raum, der Teilhabe daran und dem – man möchte fast sagen – abschweifenden der Künstlerin. Es geht ihr nicht darum, das Profil einer Stadt oder einer Straße zu zeichnen. Die ihren Fotografien innewohnenden Ambivalenzen machen vielmehr deutlich, dass der öffentliche Raum nicht ästhetisch beherrscht werden kann und sich in den banalsten und trivialsten Dingen und Situationen des Alltags eine Poesie, eine reizvolle Spannung, eine ästhetische Qualität verbergen kann, die sich mit fotografischen Mitteln, unter die Oberflächen greifend, zum Vorschein bringen lässt.

Soweit zu den allgemeinen Gemeinsamkeiten der drei hier nur in unterschiedlich gewichteten Auszügen präsentierten Fotoserien.

Für die Fotografien aus der Serie “Zwielicht“, zwischen 2005 und 2006, am Ende des Studiums als MeisterschülerInnenarbeit entstanden, hat Silke Zeidler nicht etwa einen Wald oder im Wald fotografiert, sondern die Kamera auf Stadtrand-Gehölz, Gebüsch und Gestrüpp gerichtet. Dieses überall in den urbanen Zwischen- und Umräumen unkontrolliert wuchernde Grün ist als undurchdringliches, zurückweisendes Dickicht wahrnehmbar und wird gleichzeitig – zum Beispiel durch den Einsatz von Blitzlicht bei den Nachtaufnahmen – zu einem nur mit der Kamera festgehaltenen momenthaften Schauspiel, in dem die Trennung zwischen Kulisse und Akteur aufgehoben ist, das fasziniert und das Zauberhafte im Gewöhnlichen hervorholt.

Ähnliche Wirkungen erzielen die leeren Leuchtkästen, auf die Silke Zeidler ihr Augenmerk gelenkt hat. Die weißen, vom künstlichen Licht überstrahlten Flächen ziehen den Blick an, obwohl es darin gar nichts zu sehen gibt. Schon in den Anfängen der Fotografie finden sich vom Licht überstrahlte weiße Passagen in Fotografien, die damals durch einfallendes Gegenlicht entstanden. Es waren eigentlich – aus der Perspektive der fotografischen Perfektionisten – misslungene Aufnahmen. Gleichzeitig aber bezogen diese Fotografien ihren Reiz aus dieser natürlichen, erklärbaren, in ihrer Wirkung jedoch übernatürlichen und übersinnlichen Lichterscheinung.
In Silke Zeidlers Schaukästen wird nichts als die bloße leere weiße Fläche gezeigt, die zur Projektionsfläche für eigene Bilder und Gedanken wird – oder zum Raum für die Phantasie. Indem der Blick fragend und suchend um die Lichtflächen kreist, bleibt er an der kalten, gekachelten Wand oder am nichtssagenden Straßenrand hängen. Die vor dem inneren Auge entstehenden und in Gedanken projizierten Bilder lassen sich kaum mit der Gegenwart und Zukunft assoziieren. Denn viel zu eindringlich erscheinen die Leerstellen als Zeugnisse von etwas Vergangenem oder vielmehr noch Verlorenem. Gerade an diesen Beispielen zeigt sich deutlich, dass es Silke Zeidler in ihrer fotografischen Arbeit mehr um das Sehen, das Projizieren und Reflektieren, als um das Zeigen geht.

Auch an den jüngsten, in LA entstandenen Fotografien fällt auf, dass sie das, was die Protagonisten der Fotografien sehen, was Anlass ihres Zusammentreffens ist und ihr Interesse weckt, nicht zeigen. Erzählerische Momente, Dialoge, das Zusammenspiel von Aktion und Reaktion fehlen weitgehend. In den gewöhnlichen Situationen – ganz gleich, ob leere, aufgegeben anmutende Innenräume, architektonisch brutalistische Kulissen und Ansammlungen von Menschen zu sehen sind oder einzelne Personen in Umgebungen, die eine Unterscheidung in Filmset und Lebensraum unmöglich machen, (fast) alles erscheint belanglos und trivial, manchmal/oft so als wäre der Auslöser der Kamera versehentlich betätigt worden, so dass sich dem Betrachter die Frage aufdrängt, was denn da eigentlich fotografiert worden sei. In dieser Hinsicht sind es informationsarme Bilder. Sie zeigen nicht das Hollywood, das wir durch die vielen anderen Bilder, die wir schon aus Hollywood gesehen haben, zu kennen glauben. Sie zeigen aber auch nicht das mit einem kritischen Blick abwertend betrachtete „andere heruntergekommene Hollywood“. Keiner dieser beiden Richtungen folgend verführen diese beinahe schon provozierend unspektakulären Bilder vom Hollywood Boulevard den Betrachter genauer hinzuschauen, dem Drang zu folgen, darin doch etwas (Besonderes) erkennen oder entdecken zu wollen.
Statt der distanzierten, monumentalisierenden Strenge einer systematisch angelegten dokumentarischen Untersuchungsreihe erleben wir hier unscheinbare Räume, kleine Momente und Situationen im öffentlichen Straßenleben hautnah. Wir steigen ein in diese Bildwelten, können uns identifizieren mit der Fotografin, Protokollantin und Filmerin und gleichermaßen mit ihren anonymen Protagonistinnen. Sie sind uns nicht fremd in dem, was sie sehen und tun. In Gedanken nehmen wir ihre Positionen ein, wechseln uns gewissermaßen selbst ein in dieses Spiel der vergeblichen Jagd nach fotografischen Bildern, die vermeintlich unwiederbringliche Eindrücke und Erfahrungen festhalten und mit denen wir uns und anderen vergewissern wollen, da und dabei gewesen zu sein – an welchem Ort auch immer das gewesen sein mag. Die Fotografin steht all dem nicht distanziert gegenüber, sondern ist Teil dieser pausenlos knipsenden, unbemerkt und unbeabsichtigt mit billigen Digitalkameras und Handys geknipsten Gesellschaft, der das Wesentliche, das wirkliche Leben und der Blick dafür abhanden kommt. Indem Silke Zeidler die vermeintliche Lebensader Hollywoods mit ihrem walk of fame manchmal im wahrsten Sinne des Wortes von unten betrachtet, mag sie einen zwar erinnern an den in den 50er Jahren wie sie selbst aus Europa in die USA eingereisten und mit einem (Guggenheim-)Stipendium ausgerüsteten Robert Frank, der das Land fotografierend durchquerte und mit seiner improvisierten, skizzenhaften, nicht perfekten Ästhetik das amerikanische Leben provokativ offen legte und Fotografie-Geschichte schrieb. Aber bei Silke Zeidler sieht alles nicht schwarz/weiß, sondern viel bunter aus, und nur minimal klingt vielleicht hier und da etwas von der Melancholie an, die den Fotografien Franks innewohnt. Dennoch: Was für die Künstler der damaligen Beat Generation zählte, ist auch für Silke Zeidler von wesentlicher Bedeutung. Sie interessiert das Dasein, sie will in Bewegung sein, mitkriegen was da draußen passiert, will Puls, Rhythmus und Stillstand der Zeit spüren – (sie will) die intensive, authentische Erfahrung. Ihre Arbeit ist von Spontaneität und Natürlichkeit geprägt und es scheint nichts zu geben, was sich der Fotografin in den Weg stellen könnte. Es gibt kein Scheitern an Konzepten, kein Misslingen der Fotografie. Überall, das werden wir gewahr, kann man heute ganz anders als noch als vor einigen Jahren Menschen fotografieren, ohne die Kamera verstecken zu müssen, wie es für viele der berühmten street photographers Pflicht war. Wir sind daran gewöhnt, ständig bemerkt, unbemerkt, auch unbeabsichtigt fotografiert zu werden und auch selbst alles ungehemmt zu fotografieren. Niemand – außer ein paar Promis – schert sich um die Persönlichkeitsrechte.
Wie Robert Frank (der vor ein paar Tagen 85 geworden ist) verwebt Silke Zeidler nicht nur äußere Wirklichkeit mit Autobiografischem, sondern nutzt auch parallel die unterschiedlichen Modi des Erzählens. Mit Mitteln der Fotografie, der Schrift und des bewegten Bildes gelingt es ihr, den vielfältigen Geschichten, die sich beim Aufenthalt auf der Straße, in ihrem Fall dem Hollywood Boulevard mit seinem berühmten walk of fame unerwartet ereignen, unterschiedliche, individuelle Stimmen zu verleihen. Sozialdokumentarische und konzeptuelle Fotografie erscheinen ihr ungeeignet, zu einschränkend und distanziert, um das Beiläufige, das nicht oder neben dem Trend Liegende dieses extremen Ortes, an dem Vorstellung, Phantasie und Realität hart aufeinander prallen, zu erkennen.
„Die medial disparate Arbeit verbindet das Beharren auf eine Autorschaft, die sich zwar auf eine authentische aber auch dem Zufall folgende Wahrnehmung als Basis der subjektiven Ausdrucksform und Bilderfindung bezieht.“ (Ute Eskildsen, Robert Frank. Hold Still – Keep going, S. 141) Besonders deutlich wird diese Haltung in den schriftlichen Aufzeichnungen, die mit der Karte des Hollywood Boulevard unterlegt sind: Die Nichterkennbarkeit der Beziehung zwischen Autor und dem Dargestellten betrachtet Silke Zeidler wie Frank als Verlust.
Während die Ansicht historischer Fotos bei der Suche  nach dem Vergangenen, Verlorenen beginnt, lassen zeitgenössische Fotos den Betrachter bei der Untersuchung einer Übereinstimmung zwischen eigenen Vorstellungen und den bildlichen Inhalten auf die fotografischen und ästhetischen Qualitäten stoßen. Die erfasste Wirklichkeit wird auf dem Weg ihrer unterschiedlichen Bedeutungszusammenhänge zur Kunst.

Betrachtet man Silke Zeidlers Fotos und Videosequenzen und liest die kleinen persönlichen Aufzeichnungen, die sich nur des Stils statistischer Erhebungen bedienen und diese Verfahren zur Erfassung der Welt in Wirklichkeit ad absurdum treiben, so sieht man unvermittelt mit der Künstlerin, die schaut, sich treiben lässt und etwas von dem Transitorischen und Beiläufigen notiert – ein bisschen auch wie Frank O’Hara in seinen legendären, wunderbaren „Lunch Poems“, die während seiner Mittagspausen entstanden, wenn er auf dem Weg zu einem Lunchlokal die Stadt durchstreifte. „Das Beiläufige sind die Konstanten. Entheroisierung macht Menschen zu Menschen, Architektur zu Immobilien, Migranten zu Touristen, und Baupläne enthalten den Abrißplan...Im Beiläufigen artikulieren sich Plötzlichkeit, Bedürfnisse, Ängste, Neugier, Begehren und Begierden.“ (Jean-Christoph Amman zu Beat Streuli in: Das Versprechen der Fotografie, S. 220)
Alles fließt ineinander, hier, in Hollywood, wo alles Kulisse ist und wo doch auch der Ort ist, wo Menschen leben, tagtäglich ihre immer selben Billiglohn-Arbeiten verrichten, sich an die lauten, fotografierenden, bisweilen hysterischen Touristen gewöhnt haben....Wo man nicht eindeutig entscheiden kann – ist der lässig am Straßenrand stehende, hübsche Schwarze mit dem weißen Hemd und der Sonnenbrille mit den reflektierenden Gläsern nur der Bewacher des abgestellten Shooting-Equipment oder vielleicht doch ein Schauspieler, den man sicherheitshalber fotografiert und um ein Autogramm bittet, bevor er einem möglicherweise durch die Lappen geht?
Um es ganz einfach, abschließend und mit dem schon mehrfach erwähnten Robert Frank zu sagen: „This is about life... You use your eyes and you don’t get tired of looking... Here it’s all or nothing.“ (Robert Frank, zitiert nach Eskildsen in: Robert Frank. Hold still, keep going, S. 144)

 

 

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